Plandidaktik vs. agile Didaktik
Eines der klassischen Tools zur Unterrichtsplanung, das gelehrt und bei den meisten Lehrpersonen tief verankert ist, ist die sogenannten Plandidaktik. Dabei wird in der didaktischen Arbeit wie folgt vorgegangen: Grobziele werden in Feinziele aufgebrochen, die wiederum Inhalte der Lektionen bestimmen. Anschliessend werden passende Methoden festgelegt, um den Inhalt zu vermitteln. Die Unterrichtsstunde soll mit ihren fixen Parametern, wie Technik, Haltung, Repertoire, Rhythmus, Theorie, etc. in Blöcke aufgeteilt und in fünf bis zehn Minutentakt aufgegriffen, verarbeitet und mit einer Aufgabe für die nächste Übewoche abgeschlossen werden. Zumindest erleben dies viele im Unterricht so oder haben es in der Ausbildung zur Instrumentallehrperson und in vielen Fachbüchern zur Instrumentalpädagogik nach ähnlichem Muster vermittelt bekommen. Der Aufwand ist beträchtlich und erzeugt viel Arbeit, wenn für jede einzelne Unterrichtssession der zig Schülerinnen und Schüler einen genauen Plan erstellt werden soll. Aber sie gibt Lehrenden wie Lernenden Sicherheit und ermittelt ein Gefühl der Kontrolle über den Lehrprozess. Sie lässt allerdings wenig Raum für Abweichungen – konkrete Situationen im Moment stellen sich eher als Störung dar und es gilt diese möglichst zu antizipieren oder zu vermeiden. Obwohl die eingesetzten Methoden durchaus improvisierend, interaktiv oder aktivierend sein können, geht in dieser Situation alle Energie von der Lehrperson aus und besteht im Klassenzimmer eine deutliche Hierarchie: Sie gibt den Ton und die Richtung an, sie analysiert, stellt Aufgaben, vermittelt Wissen, sie entscheidet was gelernt werden soll und was irrelevant ist.

Verlorene Zeit und alltägliche Störungen
Trotz der angenehmen Sicherheit kann dieser didaktische Ansatz auch für viel Frust sorgen, denn welche Unterrichtstunde folgt tatsächlich den vorher aufwendig und minutiös erarbeiteten Plan? Wie sinnvoll ist es, viel Zeit mit planen zu verbringen, wenn eh im Moment reagiert werden muss? Sollte noch antizipierender geplant oder die Planung im Moment noch besser durchgesetzt werden? Dabei ist einen gewissen Ärger über Abweichungen vorprogrammiert – die Schülerin konnte nicht üben, der Schüler hat nicht das richtige Material dabei, die Stunde fällt einige Male aus, … alles alltägliche Situationen, die den Plan durcheinanderbringen, die aufgewendete Zeit als überflüssig hinstellen und das Gefühl der Kontrolle erschüttern.
Agilität als Alternative
Eine Alternative bietet hier die «agile Didaktik». Wie vom Schweizer Hochschuldidaktiker Prof. Dr. Christof Arn in seinem Buch Agile Hochschuldidaktik beschrieben, stellt die agile Didaktik den Moment in den Fokus; sie wird deshalb auch als Präsenzdidaktik oder situative Didaktik beschrieben. Sie ist Gegenpol zur Idee der Plandidaktik, die von Arn jedoch keinesfalls verteufelt wird. Es geht ihn vielmehr darum ein Spektrum zu eröffnen in dem sich Lehrpersonen bewegen können.

Wird der Moment in den Fokus gestellt, gerät Planung in den Hintergrund. Ziele werden nicht aus der Vorausplanung, sondern aus der Interaktion mit den Lernenden erstellt, es werden deren Interessen und spezielle Lernbedürfnisse berücksichtigt. Dabei wird prozessorientiert gearbeitet. Durch die Beobachtung vom Lernen und den Austausch mit den Lernenden (wo sie stehen, was sie brauchen, was sie vertiefen, woran sie weiterarbeiten wollen) werden Ziele definiert und die Richtung und Inhalt der Lektion bestimmt. Die Lehrperson wählt die didaktischen Methoden intuitiv und situativ aus. Es setzt eine veränderte Form der Vorbereitung voraus: Das Erstellen eines Rucksacks an Methoden, Themen, Übungen, auf denen im Unterricht zurückgegriffen werden kann – je nach Anforderung des Moments.
Die Haltung macht’s
Agile Unterrichtsgestaltung stellt dabei einige Herausforderungen an die Persönlichkeit und die innere Haltung der Lehrperson: Offenheit zeigen und die Intuition vertrauen, Kontrolle abgeben und das Chaos zulassen zu können, auch das Selbstvertrauen und die Souveränität, jeder Situation gewachsen zu sein und ein Miteinander anstatt eines klaren Rollenverhältnis leben zu können. Dazu braucht es Vertrauen in die Lernende und die Überzeugung, dass Menschen lernen wollen und auch Freude daran haben, und nicht nur über Belohnung und Bestrafung funktionieren.
Ein Konzept aus der Hochschuldidaktik, für die Instrumentalpädagogik relevant?
Als Instrumentallehrpersonen unterrichten wir nach keinem festgelegten Lehrplan und sind nicht an extern auferlegte zu erreichenden Lernziele und Beurteilungen gebunden. Diese grosse Offenheit bietet gleichermassen Herausforderungen und Möglichkeiten. Obwohl die Fülle an denkbaren Richtungen und Schwerpunkte teilweise überfordernd sein kann und die Diskussionen unter Kolleginnen und Kollegen oder in Fachbüchern über die Relevanz einzelner Themen zahlreich und hitzig sind, bewirkt sie doch die Freiheit die instrumentalpädagogischen Themen überwiegend individuell zu gewichten, und den Unterricht nach eigenem Gusto und Ermessen zu gestalten. Ausserdem kommen unsere Schülerinnen und Schüler freiwillig in den Unterricht mit einer grossen Bereitschaft das von ihnen ausgewählte Instrument kennen und beherrschen zu lernen.
Eigentlich ideale Voraussetzungen sich anstatt an den eigenen Vorstellungen und Erwartungen an die Kompetenzen, Wünsche und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler zu orientieren. Dabei entfällt der Druck des ergebnisorientierten Wegs; nichts muss, alles kann. Dies schafft Raum für Kreativität und Improvisation – beides Grundpfeiler des Musizierens. Die Schülerinnen und Schüler werden aktiv in die Unterrichtsgestaltung eingebunden und ermutigt Verantwortung zu übernehmen, was sich positiv auf die Motivation auswirkt. Die Energie geht von beiden aus, es entsteht ein sich gemeinsam auf den Weg machen das Instrument und die Welt der Musik erforschend und spielerisch zu entdecken.

Ein Fallbeispiel
Es ist Montagmorgen, halb 10. Die erste Schülerin kommt herein und setzt sich nach einem knappen Hallo direkt ans Klavier: «Sie, kennen Sie das Lied «xy»? Ich habe das im Radio gehört und wollte das unbedingt auf dem Klavier spielen können, also war ich auf Youtube und habe es übers ganze Wochenende gespielt, das muss ich Ihnen zeigen!» Sie spielt darauf los und ich staune – trotz einigen rhythmischen Unstimmigkeiten und ein paar komische Fingersätze, spielt sie das Lied für die kurze Einübezeit überraschend sicher und in einem erstaunlichen Tempo vor. Und diese Freude! Ob sie dann auch die Stücke und Etüden, an denen wir letzte Woche gearbeitet haben, zuhause gespielt habe? Nein, dazu habe sie keine Zeit gehabt, sie habe doch so viel in der Schule und am Wochenende war sie auch fast nicht zuhause.
Diese Darstellung weist einige erkennbare Momente auf, die in Unterrichtssituationen immer wieder auftauchen. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Üben und Spielen, die sich im Kopf der Schülerin fest etabliert hat, fällt dabei als erstes auf.
Üben heisst «Auferlegtes» spielen, es ist mühsam und dafür gibt es keine Zeit; Spielen jedoch macht Spass und ist relevant, es ist Freizeit.
Als Lehrperson haben wir mehrere Möglichkeiten wie wir hier reagieren. Sind wir etwas gefrustet über unsere Planung und ermahnen sie deshalb, die aufgegebenen Stücke nicht geübt zu haben? Vielleicht war es besonders wichtig, da sie diese am Konzert spielen soll, und sowieso sollte sie doch noch dieses oder jenes Thema bis Ende Schuljahr beherrschen. Wenn sie die Aufgaben nicht erledigt, erreichen wir das Ziel nicht. Und ausserdem ist das von ihr ausgesuchte Pop-Lied ein sehr einfaches mit simplem harmonischen Aufbau und eine repetitive melodische Linie in einer schlechten Youtube-Bearbeitung; nicht etwas, das als relevant für ihre musikalische Ausbildung betrachtet werden kann. Wir gehen nicht auf die Schülerin ein, legen das Lied zur Seite und arbeiten am vorgegebenen Plan weiter.
Oder sind wir erfreut über die Eigeninitiative? Loben sie für das schnelle und selbständige Einüben dieses neuen Lieds und fragen, was sie denn an diesem Lied so fasziniert hat? Ob sie an einer bestimmten Stelle noch unsicher ist und Hilfe braucht? und ob sie vielleicht lieber dieses Lied am Konzert vorspielen möchte? Vielleicht können wir bei der technisch kniffligen Stelle gemeinsam eine Lösung finden und den Rhythmus einmal durchsprechen, vielleicht hören wir uns weitere instrumentale Fassungen des Lieds an und schauen, ob uns einige Elemente besser gefallen, die wir einbauen? Wir sind mitten im Prozess und der Plan fliegt aus dem Fenster.
Vom Weg abkommen
Beide Reaktionen sind berechtigt und absichtlich polarisierend dargestellt. Natürlich gibt es ein Spektrum an weiteren Möglichkeiten, die sich irgendwo dazwischen befinden. Doch zeigt diese Gegenüberstellung, dass es Momente gibt, wo wir die Motivation der Schülerinnen und Schüler mit der Anwendung der agilen Didaktik einfangen können. Sie eignet sich besonders für solche Unterrichtssituationen, denn so treten wir in Beziehung mit der Schülerin, die sich in ihrer Kompetenz gestärkt fühlt und bereit ist die nötige Arbeit zu leisten, um das Lied richtig zu beherrschen. Wir orientieren uns am Prozess, erzeugen Selbstwirksamkeit und machen Beziehungsarbeit. Demnach wäre es zu begrüssen, häufiger ähnliche Situation nicht nur entstehen zu lassen, sondern durch die Art unserer Unterrichtsplanung und Zielsetzung aktiv zu erwirken. Denn wünschen wir uns nicht alle solch’ motivierte Schülerinnen und Schüler? Und sind Schülerinnen und Schüler, die den eigenen Lernprozess aktiv gestalten nicht der Sinn der Sache?
Denkbar, dass dieses Konzept den meisten Instrumentallehrpersonen gar nicht so revolutionär neu erscheint, und von vielen bereits intuitiv umgesetzt wird. Die Auseinandersetzung damit bietet allerdings einerseits eine theoretische Begründung des Ansatzes und bestärkt uns als Lehrpersonen in unseren bereits erarbeiteten didaktischen Methoden. Andererseits führt sie uns das Vorrecht vor Augen, das wir als Instrumentallehrpersonen geniessen, unseren Schulalltag im freiwilligen Einzelunterricht mit viel Platz für Individualität, Kreativität und Improvisation zu gestalten, wo so vieles möglich ist, wenn wir offen und mutig sind uns auf Unbekanntes einzulassen und den Weg zum Ziel zu machen.
Literatur
Arn, Christof: Agile Hochschuldidaktik, Weinheim und Basel: Beltz Juventa, 2016.
Kantereit, Tim / Arn, Christof / MacKevett, Douglas u.w. (hrsg.): Agilität und Bildung, ein Reiseführer durch die Welt der Agilität, Karlsruhe: Visual Ink Publishing, 2021.
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